15

Am Montag, dem achten Mai, um halb neun, geschah im Polizeipräsidium auf Kungsholmen in Stockholm ein Wunder. Zum erstenmal in der Weltgeschichte schien die Sonne in die Kampfleitzentrale.

Nacheinander betraten die Mitglieder der A-Gruppe den tristen Saal, nacheinander stutzten sie beim Anblick des kleinen Sonnenlichtflecks auf dem Fußboden gleich hinter der Tür. Beinah ehrfürchtig drückten sie sich daran vorbei und setzten sich weiter vorn im Saal auf ihre Plätze. Als letzter traf Viggo Norlander ein und schloß die Tür hinter sich. Der Sonnenfleck verschwand. Er öffnete die Tür wieder – und schwupps, war der Sonnenfleck wieder da.

Die Menschen in der Kampfleitzentrale waren indessen Detektive und keine Mystiker. Die Ursache mußte erforscht und das Wunder entmystifiziert werden. Mit gemeinsamen Anstrengungen wurde der Sonnenfleck auf fünf Faktoren zurückgeführt. Als erstes schien draußen die Sonne. Als zweites schien sie durchs Fenster der Damentoilette, die wir zu einem früheren Zeitpunkt schon besucht haben. Als drittes war die Tür besagter Damentoilette in geöffneter Stellung von einer auf dem Boden liegenden zerknüllten Zigarettenschachtel festgehalten worden. Als viertes wurden die Sonnenstrahlen vom Fenster der Damentoilette zu dem Glas eines Kitschbildes weitergeschickt, das in Waldemar Mörners Zimmer aufgehängt werden sollte und – in Erwartung des Eintreffens selbiger hoher Persönlichkeit – auf dem Fußboden gegenüber der Tür zur Kampfleitzentrale abgestellt worden war. Und schließlich als fünftes, daß die Sonnenstrahlen von dem erwähnten Kitschgemälde eines weinenden Kindes durch die offene Tür in die Kampfleitzentrale weitergeleitet wurden.

Die Tür wurde geschlossen. Das Wunder war entmystifiziert. Und Jan-Olov Hultin ließ die Eulenbrille so tief seine gewaltige Nase hinuntergleiten, daß sie sich auf gleicher Höhe mit der makellos rasierten Oberlippe befand.

»Gute Neuigkeiten«, sagte Hultin neutral. »Aber die heben wir uns für später auf. Zunächst entschuldige ich mich bei Sara dafür, daß sie in das gestrige Fernsehdebakel hineingezogen wurde. Man muß ordentlich vorbereitet sein, wenn man neben Waldemar Mörner Platz nimmt.«

»Und man darf keinen ganzen Strauß von Mikrophonen verrücken.«

Wer hatte das gesagt? Wer war so wagemutig und verwegen, den Kopf in den Rachen des Löwen zu stecken? Man sah sich im Raum um und wartete auf den Augenbrauenkopfstoß.

Mit gemeinschaftlicher Anstrengung konnte der Ausspruch indessen zu Jan-Olov Hultin selbst zurückverfolgt werden. Selbstkritik? Eine drastische Persönlichkeitsveränderung war offenbar zu erwarten.

Schlaganfall? dachten vier Personen, deren Namen in alle Ewigkeit verborgen bleiben sollen.

»Es kam ein bißchen überraschend«, sagte Sara Svenhagen milde.

»Wir machen weiter«, sagte Hultin, als wäre nichts geschehen. »Die vorläufige Untersuchung der Spurensicherung am Südfriedhof hat nichts ergeben. Nicht einen brauchbaren Fußabdruck, nicht einen Fingerabdruck an Seil oder Körper. Dagegen Leonard Sheinkmans Fingerabdrücke auf mehreren Stücken des zerstörten Grabsteins unter ihm. Sollen wir das ganz einfach als ein Zeichen des Schmerzes deuten oder so, daß dieser Grabstein tatsächlich für ihn irgendeine Bedeutung hatte? War er auf dem Weg dorthin?«

»Der Name auf diesem Grabstein«, sagte Jorge Chavez, »ist als ›Shtayf‹ rekonstruiert worden. Nur das. Wir werden noch etwas über die Leiche herausfinden.«

»Das ist dein Job, Jorge«, sagte Hultin. »Und sonst? Was ist aus unserem Skinhead Andreas Rasmusson geworden?«

Kerstin Holm blickte in ein Papier. »Er hat anscheinend heute nacht eine Psychose bekommen. Er ist ins Söder-Krankenhaus eingeliefert worden.«

»Unter Bewachung?«

»Wenn man eine festgenommene Verdachtsperson ist, dann ist man bewacht. Ja, ein Assistent ist Tag und Nacht bei ihm. Den Informationen zufolge soll er vollkommen abgedreht sein.«

»Ich halte es für sehr wichtig, daß wir erfahren, was die Skinheads gesehen haben«, sagte Hultin. »Es muß möglich sein, herauszufinden, wer seine Freunde waren, mit wem er gestern zusammen war, etcetera, etcetera. Gunnar?«

»Okay«, sagte Gunnar Nyberg.

»Allerdings nach der Universität. Du und Viggo und der Kollege Andersson sollt um zehn Uhr im Institut für Slawische Sprachen eine Slawistin mit Namen Ludmilla Lundkvist treffen. Nehmt Andersson mit und fahrt nach Frescati.«

»Da«, sagte Nyberg sprachkundig.

»Jetzt«, sagte Hultin brutalneutral und hielt ein Papier in die Höhe, auf dem ein großes Pluszeichen zu sehen war, »liegt mir diese Skizze vor, die mir vollkommen anonym zugegangen ist. Sie besteht aus vier Segmenten …«

»Quadranten«, sagte Chavez.

Hultin gab ihm einen sehr langen und sehr neutralen Blick.

»… vier Segmenten, die der Reihe nach auf ›Skansen‹, ›Skogskyrkogården‹, ›Slagsta‹ und ›Odenplan‹ getauft sind. Unter ›Skansen‹ steht ›Fingerabdrücke, Pistole, Metalldraht, Seil, Epivu‹. Unter ›Skogskyrkogården‹ steht ›Nächste Angehörige, modus operandi checken, Gehirnchirurg-Gutachten über Wirkung des Metalldrahts aufs Gehirn, Skinhead-Zeuge, andere Zeugen, Tatort checken‹. Ich habe hier gerade eigenmächtig ›Shtayf‹ hinzugefügt. Kann das von meinen Vorgesetzten in der Versammlung akzeptiert werden?«

»Ja klar doch«, sagte Chavez. »Gut gemacht, junger Mann.«

Wieder ein unendlich langer Blick. Dann: »Weiter. Unter ›Slagsta‹ steht: ›Check der Telefonate, Spurensicherungsprotokoll, Fahrzeug, Phantom-Zuhälter‹. Und unter ›Odenplan‹ steht: ›Handy, Gesprächsliste, Sprachexperte‹«.

Jan-Olov Hultin stand auf und ging zur Flipchart. Mit einer theatralischen Geste drehte er sie so, daß die Rückseite nach vorn zeigte. Darauf offenbarte sich das gleiche Pluszeichen wie auf dem Papier. »Nehmen wir also dieses anonyme Meisterwerk und machen es zur Nabe der Ermittlung. An mir soll’s nicht scheitern. Wenn wir von hinten anfangen, kommen wir zu ›Sprachexperte‹. Dieses Detail wird also heute geklärt. Die weiteren Punkte, ›Handy‹ und ›Gesprächsliste‹, liegen bei den Technikern, die gerade mit der SIM-Karte herumpusseln und dergleichen. Hoffentlich bekommen wir im Laufe des Tages ein Abo und eine Liste der Gespräche. Der vorausgehende … Quadrant: ›Slagsta‹. Sehen wir uns den ›Phantomzuhälter‹ einmal an, das Gesicht, das Jörgen Nilsson vom Norrboda-Motel herausmodelliert hat. Viggo, du machst dich an die Identifizierung, wenn ihr von der Sprachexpertin in Frescati zurückkommt. Okay?«

»Okay«, sagte Chavez.

Norlander sah ihn vergrätzt an und sagte: »Okay.«

»Was bedeutet ›Fahrzeug‹? Ein unbekanntes Motorgeräusch in Slagsta um halb vier, vier am Donnerstagmorgen. Nicht ganz leicht zu bearbeiten, aber interessant. Weitere Nachbarn befragen, bei Busfirmen anfragen und prüfen, welche Busse über welche Zollstationen Schweden verlassen haben. Klingt das unerträglich, Sara?«

»Nein, das geht in Ordnung«, sagte Sara und ließ das Seufzen nicht hören.

»Den Punkt ›Spurensicherungsprotokoll‹ kann ich selbst beantworten, weil ich das Material heute nacht durchgesehen habe. In den vier Motelzimmern wurde, hört jetzt genau hin, Sperma von achtzehn verschiedenen Männern gefunden. Soweit zur Aufnahme von Flüchtlingen in Schweden. Eine sehr große Anzahl Fingerabdrücke ist ebenfalls sichergestellt worden, hat aber bisher im Kriminalregister nichts klingeln lassen. Die achtzehn Männer waren also demnach normale, anständige Schweden.«

»Sowie möglicherweise der eine oder andere Nachbar im Norrboda-Motel«, sagte Kerstin Holm.

»Keine Blutflecken jedenfalls, keine Anzeichen von Gewalt. Physischer Gewalt also. Sonst nichts. Die Zimmer enthielten keinerlei persönliche Gegenstände. Schließlich der Punkt ›Check der Telefonate‹. Ist das etwas für Paul Hjelm? Als Dank hierfür.«

Hultin zeigte auf das Pluszeichen auf der Flipchart.

»Wenn ich Zeit habe«, sagte Hjelm.

»Du hast Zeit«, sagte Hultin neutral und fuhr fort:

»Quadrant zwei, ›Skogskyrkogården‹. Der neue Punkt ›Shtayf‹ ist also Jorges. Dann haben wir ›Tatort checken‹, das ist geklärt: kein Resultat. Danach ›Skinhead-Zeugen‹ und ›andere Zeugen‹: Gunnar übernimmt also die Skinhead-Zeugen. Andere Zeugen existieren unseres Wissens nicht. Die Medien haben die Frage ja jetzt schon einen ganzen Tag hinausposaunt; möglicherweise melden sich neue Zeugen. Warten wir ab. Der unförmige Punkt ›Gehirnchirurg-Gutachten über Auswirkungen des Metalldrahts aufs Gehirn‹ existiert bereits in materieller Form, wenn auch teilweise undurchdringlich. Qvarfordt teilt in seinem gewohnten Stil folgendes mit:

›Der achtundachtzigjährige Körper ist für sein Alter gut erhalten. Keine Anzeichen von Arteriosklerose in irgendeiner Form. Keinerlei alterstypische Anzeichen von Enzephalomalazie. Zerebrum ungewöhnlich groß. Tätowierte Ziffern unmittelbar oberhalb des linken Handgelenks. Tendenz zu zervikaler Spondylose. Circumcisio postadoleszent. Rheumatoide Arthritis, initial, mit Symptomen in Hand- und Fußgelenken.‹ Die assistierende Obduzentin, die Gehirnchirurgin Ann-Christine Olsson, fährt ein wenig pädagogischer fort: ›Der Metalldraht im Gehirn kann nicht als direkte Todesursache bezeichnet werden. Er ist durch die Schläfe eingeführt und anschließend durch die Hirnrinde ein- und ausbewegt worden. Die Hirnrinde stellt das Schmerzzentrum des Gehirns dar. Dort wird der Schmerz bewußt gemacht. Eine Einwirkung dieser Art direkt auf die Hirnrinde dürfte ein maximales Schmerzerlebnis auslösen. Möglicherweise – doch darüber streitet die Forschung – kann dieses Schmerzerlebnis so stark werden, daß es zum Tode führt. Möglicherweise kann auch der Umstand, daß das Opfer mit dem Kopf nach unten aufgehängt war, den Schmerz intensiviert haben, aufgrund vermehrter Blutzufuhr in der Hirnrinde. Die Todesursache ist somit unsicher. Es trat ein Herzstillstand ein. Dieser kann auf Schock oder Schmerz zurückzuführen sein.‹«

Hultin machte eine kleine Pause. »Ein ebensolcher Metalldraht wurde am Sonntagnachmittag in dem Material avis dem Vielfraßgehege in Skansen gefunden. Mit gewisser Wahrscheinlichkeit bedeutet das: Zwei Männer wurden dadurch getötet, daß ihnen ein so starker und überwältigender Schmerz zugefügt wurde, daß sie ihn nicht überlebt haben. Den Schmerz, also.«

»Wenn nicht die Vielfraße schneller waren«, sagte Chavez.

»Sicherlich«, räumte Hultin ein. »Dies ist jedenfalls bedenkenswert. Hier ist viel Haß im Spiel. Eine dermaßen raffinierte und fürchterliche Hinrichtungsmethode auszudenken erfordert seinen Mann.«

»Oder seine Frau«, sagte Kerstin Holm.

»Oder seine Frau«, räumte Hultin wiederum ein. »Also wird der folgende Punkt, ›modus operandi checken‹, von größter Bedeutung sein. Ist eine derartige Hinrichtungsmethode früher schon einmal angewendet worden? Wann, wo, wie? Kerstin?«

»Natürlich«, sagte Kerstin. »Ich werd’s versuchen.«

»Der Punkt davor, ›nächste Angehörige‹, ist bereits abgearbeitet. Kerstin, Jorge und Paul haben gestern nachmittag je eins der Kinder von Leonard Sheinkman besucht. Berichte über die Gespräche mit den Geschwistern Sheinkman sind verteilt worden und sollten auf allen Schreibtischen liegen. Können wir eine Zusammenfassung bekommen?«

»Ich war bei dem mittleren der Kinder«, sagte Chavez, »der Tochter Channa Nordin-Sheinkman in der Fridhemsgata. Eine sehr radikale Frau mit sehr dezidierten Meinungen. Kind der 68er-Bewegung. Hatte den Kontakt mit dem Vater nach dem Tod der Mutter 1980 stark eingeschränkt. Hatte also nicht viel zu sagen, außer daß er ein durch und durch autoritärer Mensch war, von dem sie so schnell wie möglich hatte wegkommen wollen. Sie bestand darauf, daß ich eine Notiz machte: Ich trauere nicht. Ich habe es also notiert. Sie lud mich übrigens zu einer ordentlichen Haschisch-Pfeife ein. Bitte macht eine Notiz, daß ich verzichtet habe, daran zu ziehen. Es sah mir zu bakteriell aus.«

»Ich war bei dem jüngsten Sohn«, sagte Kerstin Holm.

»David Sheinkman in Näsbypark. Er hat im großen und ganzen die Arbeit des Vaters als Gehirnchirurg und entsprechend als Forscher im Karolinska weitergeführt. Frau und vier Kinder zwischen acht und siebzehn. Im Unterschied zum Vater ist er ziemlich fromm und in der jüdischen Gemeinde aktiv. Er hatte das ganze ziemlich komplizierte Begräbnisarrangement auf sich genommen, und ich hatte den Eindruck, daß seine Trauer tief und echt war. Es scheint jedoch eine Liebe auf Distanz gewesen zu sein, sozusagen. Sie trafen sich nur an Feiertagen, und das auf eine ziemlich formelle Art und Weise. Man muß David ohnehin als einen sehr formellen Menschen bezeichnen. Penibel und kontrolliert. Ich bekam den Eindruck, daß der Vater ihm sehr ähnlich war. David Sheinkman ist wohl so nah an Leonard Sheinkman, wie wir je kommen können. Aber er hatte sehr wenig über ihn als Menschen zu sagen.«

»Es sieht so aus, als liefe unser bester Kontakt mit der Familie über Harald Sheinkman, den ältesten Sohn«, sagte Hjelm. »Der alte Sheinkman wohnte in einer Dachwohnung in Haralds Haus, das ursprünglich seins gewesen ist, also Leonards. Geschieden und ausgebrannt, war Harald irgendwann in den achtziger Jahren auf die Bretter gegangen. Er ist Arzt, nicht Forscher, und inzwischen auch Schriftsteller. Ein sehr angenehmer Mann mit einem nicht ganz leicht zu nehmenden Humor. So etwas ist zu schätzen. Ich bin Leonards Wohnung durchgegangen. Vielleicht muß sie noch einmal angeschaut werden. Falls ja, kann ich das übernehmen. Ich habe auch einiges über Leonards Leben vor dem Krieg erfahren, Dichter, Familienvater. Ich habe einen ausführlichen Bericht geschrieben, falls es jemanden interessiert. Und ich habe sein Tagebuch aus Buchenwald. Das werde ich lesen. Allerdings ist es auf deutsch.«

»Ausgezeichnet«, sagte Hultin. »In der Freizeit natürlich.«

»Natürlich.«

»Ihr fangt an müde auszusehen. Aber wir haben noch einen sogenannten Quadranten, nämlich ›Skansen‹. Nun wollen wir mal sehen, was unser anonymer Künstler geschrieben hat. Dieses ›Epivu‹. Da sind wir wohl noch nicht viel weiter gekommen. Ich gehe davon aus, daß das Wort in euren Hirnen gespeichert ist, am besten im Schmerzzentrum. Dann ›Seil‹. Darum kümmert sich Jorge, soweit ich verstanden habe.«

»Aber ja doch«, sagte Chavez. »Die Seilproben von diversen Fabriken dürften im Lauf des Tages eintreffen.«

»›Metalldraht‹ ist ein weiterer Punkt. Gefunden. Gehört zu Kerstins modus-operandi-Untersuchung. Punkt zwei, ›Pistole‹. Bisher keine Rückmeldung wegen der Seriennummer der Luger. Aber – und ich habe euch eingangs gute Neuigkeiten versprochen – der erste Punkt unseres anonymen Künstlers lautet ›Fingerabdrücke‹.«

Wie die Dramaturgie es verlangte, bekam Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin die ungeteilte Aufmerksamkeit des Auditoriums. Er sagte: »Interpol hat zwei Antworten auf die Fingerabdrücke des Vielfraßmanns geliefert. Aus zwei Ländern. Griechenland und Italien. Der Vielfraßverspeiste war Grieche. Er hieß Nikos Voultsos, geboren 1968 in Athen. Das erste Urteil wegen Körperverletzung erfolgte in Griechenland 1983, da war er fünfzehn. Danach folgt eine ganze Latte mehr oder weniger grober Straftaten, unter anderem Kuppelei. Als er 1993 des Mordes an drei Frauen verdächtigt wird, verschwindet er. Jetzt taucht er in Italien auf. Obwohl, richtig auftauchen tut er auch wieder nicht. Nikos Voultsos steht offenbar die ganze Zeit unter Verdacht seitens der italienischen Polizei, aber sie können ihn nicht fassen. Er taucht nämlich in Italien unter, genauer gesagt in Mailand, wo er mindestens zwanzig schwere Straftaten begeht, Schutzgelderpressung, Drogenvergehen, Körperverletzung, Vergewaltigungen, Mord. Und wieder Kuppelei. Unser Mann ist also tatsächlich Zuhälter.«

Sara betrachtete Kerstin. Kerstin betrachtete Sara. Ihre Blicke verrieten Genugtuung.

»Die Information von der italienischen Polizei ist ziemlich vage«, fuhr Hultin fort. »Möglicherweise kann man zwischen den Zeilen ›organisiertes Verbrechen‹ lesen, und was das in Italien bedeutet, dürfte wohl klar sein.«

»Die Mafia?« fragte Chavez.

»Wenn man es ganz genau nimmt«, sagte Hultin, »ist die Mafia wohl ein sizilianisches Phänomen. Neapel hat seine Camorra, eine vergleichbare Organisation. Und dann gibt es eine norditalienische Entsprechung, die mindestens ebenso mächtig ist. Es hat den Anschein, als habe Nikos Voultsos Bordelle für die norditalienische Mafia betrieben. Wenn wir sie einmal so nennen wollen.«

»Und da kommt er ins kleine Schweden«, sagte Kerstin Holm. »Um für die norditalienische Mafia Bordelle zu betreiben?«

»Und wird statt dessen von Vielfraßen gefressen«, sagte Chavez. »Da kann man von alternativer Karriere sprechen.«

»Die italienische Polizei hatte ihn anscheinend im Visier. Sie verloren ihn Mitte April aus den Augen. Am dritten Mai starb er in Skansen. Man könnte sich vorstellen, daß den Bossen in Mailand so viel Aufmerksamkeit gar nicht lieb war und sie ihn wegschickten. Ungefähr wie in Der Pate. Michael Corleone. Aber wahrscheinlich hatte er auch einen Auftrag. Und es wirkt nicht ganz unwahrscheinlich, daß der mit Kuppelei zu tun hatte.«

Kerstin Holm überlegte laut: »Eine gute Woche vor dem Verschwinden geht eine Welle von Beunruhigung durch die Zimmer 224, 225, 226 und 227 im Norrboda-Motel in Slagsta. Da sind wir ungefähr am fünfundzwanzigsten April. Man kann sich natürlich vorstellen, daß dies der Zeitpunkt war, an dem Nikos Voultsos hier eintraf. Der erste Anruf der gewalttätigen Odenplanfrau erreicht Slagsta am Samstag, dem neunundzwanzigsten April. Bis um 22 Uhr 54 am Mittwochabend, nur wenige Minuten nach Voultsos’ Tod in Skansen, rufen sie einander an. Ein paar Stunden nach seinem Tod verschwinden sie.«

»Sie werden befreit«, sagte Sara Svenhagen atemlos.

»Sie ist wirklich Ninja-Feministin«, sagte Jorge Chavez und erntete einen verwunderten Blick seiner Ehefrau.

»Wenn das stimmt«, fuhr Kerstin fort, »hat sie also einen Mafioso ermordet. Und da muß man schnell verduften.«

»Alles das hängt eindeutig zusammen«, sagte Paul Hjelm. »Aber wo zu Teufel kommt Leonard Sheinkman ins Bild? Was hat der achtundachtzigjährige emeritierte Professor Leonard Sheinkman mit Nikos Voultsos und den Puffs der norditalienischen Mafia und mit extrem gewaltbereiten Ninja-Feministinnen zu tun? Warum wird er auf die gleiche Weise ermordet wie ein notorischer Vergewaltiger und Frauenmörder? Das paßt nicht zusammen.«

»Ich stimme dir zu«, sagte Hultin. »War es Zufall? Kam er zufällig daher? Kaum. Jemand hat ihn sehr intensiv gehaßt, aber es ist keinesfalls sicher, daß es diese Frau ist, die ihr Ninja-Feministin nennt, was das auch sein mag. Die Verbindung zu ihr ist zu schwach.«

»Gibt es ein Bild von diesem Nikos Voultsos?« fragte Kerstin Holm.

»Klar«, sagte Hultin und hielt ein Farbfoto eines dunkelhäutigen Mannes mit kühlen Augen in die Höhe. Ein klassischer Gangster. Er lächelte schief, trug einen leichten hellrosa Sommeranzug und eine sehr dicke goldene Kette um den Hals.

»Ich hoffe, er hat ihnen geschmeckt«, sagte Sara Svenhagen. »Dann war er ja immerhin noch nützlich.«

»Wenn du nach Slagsta fährst, Sara«, sagte Hultin, »dann nimm das Foto mit und zeige es allen. Vielleicht hat ihn dort draußen trotz allem jemand gesehen.«

Sara nickte stumm.

»Wir bräuchten näheren Kontakt mit der italienischen Polizei«, sagte Hjelm. »Es fehlt doch noch eine ganze Menge Information.«

Jan-Olov Hultin stand auf und beugte sich übers Katheder vor. »Das ist ja der Clou vom Ganzen«, krähte er. »Wir haben ja einen Mann vor Ort.«

Tiefer Schmerz
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